8. Mai 2010

Pacta Absurda

Wozu schließt man einen Vertrag? Auf diese Frage kann es viele Antworten geben:
  1. Um den Vertragsparteien Rechtssicherheit hinsichtlich einer bestehenden oder künftig möglicherweise auftretenden Unklarheit rechtlicher oder tatsächlicher Natur zu geben.
  2. Um einen fairen und wirtschaftlich ausgewogenen Kompromiss zwischen widerstreitenden Interessen zu fixieren.
  3. Um die Spielregeln des Umgangs in einer langfristigen Beziehung festzulegen.
  4. Oder ganz allgemein: weil es etwas zu regeln gibt.
Immer häufiger begegnen mir allerdings Verträge (oder Vertragsbestandteile), die nicht im entferntesten einem der genannten Zwecke (oder einem vergleichbar sinnvollen Ziel) dienen, sondern einzig und allein um ihrer selbst willen abgeschlossen werden. Merkwürdigerweise kommt der Wunsch, solche unsinnigen Verträge abzuschließen, meistens von genau denjenigen Stellen und Personen, die ansonsten nicht müde werden, über Förmlichkeiten jeder Art und insbesondere die bösen Juristen zu jammern. Das passiert besonders häufig dann, wenn einer "Führungsperson" eine Idee angetragen wird, zu der man sich inhaltlich eigentlich nicht äußern kann oder möchte, andererseits aber auch nicht "Nein" sagen will. Nein sagen, das ist ja per se bürokratisch, wettbewerbswidrig, wissenschaftsfeindlich und überhaupt ganz einfach böse. Gut, dass es Juristen gibt, auf die man im Falle der eigenenen Entscheidungsunfähigkeit oder -unlust eine inhaltliche Führungsentscheidung abschieben kann. Die Devise lautet: "Ich kapier's zwar nicht, trau mich aber auch nicht, dagegen zu sein. Sollen die Juristen mal schauen, ob das geht. Und wenn die ein Haar in der Suppe finden und das Vorhaben deswegen scheitert, bin ich wenigstens nicht schuld." Manche nennen das Führungsstil. Ich nenne es Verantwortungsflucht.
Aber zurück zum Thema. Der nutzlose Vertrag erscheint in verschiedenen Formen, die ich wie folgt kategorisieren würde:
  1. Die Pressemitteilung mit Rubrum
    Zwei Parteien machen irgendetwas miteinander, oft schon seit einer ganzen Weile und ohne jegliche Schwierigkeiten. Es gibt keinerlei Interessengegensätze, für keinen der Beteiligten ist Geld im Spiel, und Verpflichtungen gegenüber Dritten existieren auch keine. Alles ist gut, und es beabsichtigt auch niemand, daran etwas zu ändern. Eines fehlt nur: die öffentliche Aufmerksamkeit. Also bastelt man einen Vertrag, dessen Regelungsgehalt allenfalls homöopathisch ist, und unterschreibt ihn öffentlichkeitswirksam. Ergebnis: Man hat etwas getan, die Presse kriegt es mit, die Konkurrenz ärgert sich.
    Schlimmstenfalls kommt dann aber das böse Erwachen hinterher, weil interessierte Dritte erst anlässlich einer solchen Vertragsunterzeichnung mitkriegen, was da schon die ganze Zeit gemacht wird, und anschließend gegen den Vertrag wettern, der nun wirklich gar nichts dafür kann. Die vorhersehbare Reaktion auf solch eine Entwicklung lautet: Warum haben die Juristen uns nicht gesagt, dass das passieren kann?
  2. Der Vertrag als Beleg von Qualität
    In akademischen Kreisen gilt es als schick, mit möglichst vielen möglichst namhaften Partnern einen Kooperationsvertrag zu haben. Was in diesen Verträgen drinsteht, interessiert keinen. Wie die Kooperation dann konkret aussieht, auch nicht. Es ist auch besser, wenn man hier nicht näher nachfragt. Denn der mangelnde juristische Gehalt solcher Verträge (und bei englichsprachigen Exemplaren typischerweise deren sprachliche Qualität) wird durch den minimalen Gehalt der Kooperation selbst oft noch unterboten. Von vorzeigbaren Ergebnissen ganz zu schweigen. Die spannendste Frage von allen wird sowieso nie gestellt: Wozu braucht man den Vertrag überhaupt; was erlaubt oder ermöglicht der Vertrag, was nicht auch ohne ihn möglich wäre? In der Regel lautet die Antwort: Der Vertrag erlaubt eine presse- und imagetaugliche Mitteilung darüber, dass es ihn gibt. Insoweit ist dieser Typ dem vorgenannten vergleichbar. Darüber hinaus aber taugt er auch sehr gut zum Anlegen und Ausbauen einer Sammlung gleichermaßen sinnfreier Dokumente. Und so schlägt die Quantität in Qualität um, und in einer Zeit des allseitigen akademischen Schwanzvergleichs von Evaluationen, Zitationsindizes und Drittmittelrekorden wird auch noch die schiere Anzahl der Vervielfältigungen eines nutzlosen Dokuments mit jedesmal neuer Unterschriftenzeile als Beleg für akademische Exzellenz herangezogen. Mundus vult decipi.
  3. "Mein Schatz!" oder: Jedem König sein Reich
    Nur auf den ersten Blick das Gegenteil der qualitätssimulierenden Quantität (die gerne auch mit einem "Mustervertrag von der Stange" auskommt und daher wenigstens kein juristisches Hirnschmalz vergeudet) ist die vertragliche Fixierung eines absolut neuartigen, noch nie dagewesenen und daher wahnsinnig innovativen Projekts, das durch seine Einzigartigkeit gekennzeichnet ist. In formaler Hinsicht ist der Jurist hier oft nicht nach einem klassischen Vertrag gefragt, sondern stattdessen nach einer Vereinssatzung, einem Gesellschaftsvertrag oder irgendeiner Geschäfts- oder sonstigen "Ordnung" (welchen formellen Rang die auch immer haben soll). Hauptsache ist dabei, dass die Einzigartigkeit des Projekts erstens durch die komplette Neuschöpfung des organisatorischen und rechtlichen Rahmens belegt und zweitens durch die Unwiederholbarkeit der konkreten Form auf Dauer gesichert wird. Jedes Vorhaben egal welcher Art kann zum absoluten Novum erklärt werden, das mit dem vorhandenen Instrumentarium auf keinen Fall bewältigt werden kann. Die Innovativität einer Idee zeigt sich vor allem daran, dass man für ihre Umsetzung wiederum ganz neue juristische und administrative Strukturen braucht, die man wiederum auch neu erfinden muss. Was vorhanden ist, ist grundsätzlich untauglich, nur das Neue ist gut. Also wird nicht nur jede Woche eine neue Sau durchs Dorf getrieben, sondern vor allem größte Mühe darauf verwandt, jeder neuen Sau auch einen neuen Rock anzuziehen. Hier ist juristische Phantasie gefragt, um dem Kunden eine Lösung zu bieten, die seinem Bedürfnis nach Glamour und Einzigartigkeit entgegen kommt, gleichzeitig aber auch rechtssicher funktioniert, ohne dass man gleich die Gesamtausgabe des Bundesgesetzblattes umschreiben muss.
    Leider wird hier besonders gerne der Rahmen des Machbaren verwechselt. Merke: Per Vertrag kann man nicht alles regeln. Schon gar nicht kann man etwas, was das Gesetz ausdrücklich nicht erlaubt, per Vertrag doch möglich machen. Das ist kein Ausweis der Unzulänglichkeit des Juristen, sondern eines abweichenden gesellschaftlichen Konsenses, wie er im Rahmen eines parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren zum Gesetz geworden ist. Pacta sunt servanda - Leges aber auch!
  4. Die vertragliche Absicherung des unvertretbaren Risikos
    Es gibt rechtliche Vorgaben, und es gibt unternehmerische Freiräume. In einer Marktwirtschaft sind letztere notwendig und ihr Umfang beachtlich. Die Kehrseite der unternehmerischen Freiheit ist das unternehmerische Risiko. Wenn heutzutage (gemäß dem ausgerechnet im öffentlichen Bereich immer noch geltenden Dogma der Allmacht von Markt und Wettbewerb in leicht anachronistischer Anmutung) immer mehr "Freiheiten" für öffentliche Einrichtungen wie z.B. Hochschulen gefordert werden, dann wird gerne vergessen, dass Freiheit auch Verantwortung und Risiko mit sich bringt. Wer mit Steuergeldern hantiert, muss über deren Verwendung Rechenschaft ablegen, ist das so schwer einsichtig? Und wenn die Vorab-Steuerung des Haushaltsgesetzgebers zugunsten einer flexibleren Wirtschaftsführung zurückgefahren wird, dann ist es nur konsequent, wenn eine autonome Universität, die immer noch aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, zum Ausgleich einer verstärkten Ex-Post-Kontrolle unterliegt. Dann kommt halt etwas häufiger als früher der Rechnungshof ins Haus. Aber ich schweife schon wieder ab, zurück zur Sache.
    Es gibt Entscheidungen, von denen ein verantwortungsbewusster Unternehmer unter Abwägung aller betriebswirtschaftlichen und sonstigen Aspekte letzten Endes doch lieber die Finger lässt. Weil sie zum Beispiel trotz aller denkbaren Gewinnmöglichkeiten zunächst mal zu teuer sind. Weil sie zwar bezahlbar sind, aber keinen nennnenswerten Gewinn versprechen. Weil sie zum erfolgreichen Abschluss zu viele Ressourcen binden, die eigentlich für das Kerngeschäft benötigt werden. Oder weil sie schlicht unsinnig sind. Im öffentlichen Bereich, der sich von den Fesseln der parlamentarischen Kontrolle und der "Rule of Law" (was für eine wunderbarer Begriff für das, was wir prosaisch Rechtsstaat nennen!) emanzipiert hat und "autonom" agiert, zieht mehr und mehr ein Wahn der Machbarkeit ein, der in der Privatwirtschaft längst mit der Höchststrafe des Konkurses belegt würde. Wenn man als politisch "Verantwortlicher" irgendwann ein rotes Band durchschneiden kann, fragt keiner danach, ob die gerade eröffnete Einrichtung überhaupt von irgend jemandem gebraucht wird. Wenn plötzlich Millionen in der Stadtkasse klimpern, interessiert nicht, ob man die auch behalten oder womöglich mit Zins und Zinseszins zurückzahlen muss. Zu Beginn eines solchen Irsinns werden typischerweise von den dafür zuständigen Stellen und Personen juristische Bedenken geltend gemacht. Über diese wird sich hinweg gesetzt, das nennt man dann Führungsstärke. Und zur Strafe für die Bedenken kriegt der Jurist die Aufgabe, das Risiko, vor dem er gerade gewarnt hat, vertraglich auszuschließen. Aber welcher Kommunaljurist kann schon vertraglich verhindern, dass der US-amerikanische Gesetzgeber eine Gesetzeslücke stopft, die die deutsche Kommune in moralisch, rechtlich und wirtschaftlich fragwürdiger Weise nutzen möchte, um Kasse zu machen? Als vor einigen Jahren scharenweise Städte und Gemeinden auf mehr oder weniger dubiose Cross Border Leasing-Angebote eingingen, konnte kein noch so findiger Jurist per Vertrag verhindern, dass solche Geschäfte im Rahmen einer weltweiten Finanzkrise den Bach runtergehen würden. Es gibt keine Vertragsklausel, die ein Risiko ausschließen könnte, man kann immer nur die finanziellen Folgen in der einen oder anderen Weise auf die Vertragsparteien verteilen. Wenn ein Geschäft riskant ist, dann bleibt es riskant, da helfen auch keine "Haftungsbegrenzung", "Disclaimer", "Indemnification" oder was die juristisch unbedarfte "Führungspersönlichkeit" sonst an Zauberwörtern aufgeschnappt hat. Als Jurist kann man nur eines tun: rechtzeitig warnen und diese Warnung auch aktenkundig dokumentieren und begründen.

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